Literaturnobelpreis 1924: Władisław Stanisław Reymont

Literaturnobelpreis 1924: Władisław Stanisław Reymont
Literaturnobelpreis 1924: Władisław Stanisław Reymont
 
Der Pole erhielt den Nobelpreis »für sein großes Nationalepos »Die Bauern««, das ein Leben in und mit der Natur zelebriert.
 
 
Władisław Stanisław Reymont, * Kobiele Wielkie (Polen) 7. 5. 1865, ✝ Warschau 5. 12. 1925; Sohn eines Dorforganisten, Autodidakt, Reisen in Europa und Amerika, berühmt geworden durch seinen Stadtroman »Das gelobte Land« (1899), der das frühkapitalistische Lodz beschreibt, und das groß angelegte Dorfepos »Die Bauern« (1902-08).
 
 Würdigung der preisgekrönten Leistung
 
Władisław Stanisław Reymont erhält den Nobelpreis ein Jahr vor seinem Tod und zu einem Zeitpunkt, als sein literarisches Talent seit über einem Jahrzehnt bereits versiegt war. Reymont hatte schon in seinem Stadtroman »Das gelobte Land« antizivilisatorische und -industrielle Töne laut werden lassen. Gleichwohl gehört »Die Bauern. Ein zeitgenössischer Roman«, wie er ihn untertitelte, zu den wichtigsten literarischen Darstellungen des bäuerlichen Lebens in der Weltliteratur. Die Gattung der Bauern- und Dorfliteratur wird im 20. Jahrhundert gerade in Osteuropa bis in die 1970er-Jahre noch in mehreren Wellen Konjunktur haben. Die bäuerliche Welt behält hier, dies gilt insbesondere auch für Polen, länger als in Westeuropa eine große geschichtliche Bedeutung.
 
 »Die Bauern«
 
Reymonts Bauernepos ist keine Idyllendichtung in der Art, wie frühere Literaten es liebten, über das Landleben zu schreiben. Der Roman, in dem der bäuerliche Jahreszyklus die Zeit dominiert, beginnt im Dorf Lipce mit der Kartoffelernte und endet mit der Getreideernte im folgenden Jahr. Das Werk spielt auf drei Ebenen. Diese sind die Natur im Wechsel der Jahreszeiten, das ländliche Leben der Dorfgemeinschaft mit an die 80 Einzelporträts und das zusammenhängende tragische Schicksal der Bauernfamilie Boryna. Der verwitwete reiche Hofbauer Maciej Boryna will die schöne junge Jagusia heiraten und stellt sich mit diesem Schritt gegen die Zukunft seiner bereits erwachsenen Kinder, da er ihnen das Erbe vorenthält. Zudem wählt er sich ausgerechnet eine Frau zur Braut, auf die bereits der Blick seines Sohnes Antek fiel. Das Drama von Inzest und Besitz spitzt sich im Lauf des bäuerlichen Jahres zu. Der herrschsüchtige Vater sieht sich nach der Hochzeit bald als gehörnter Ehemann. Jagusia und Antek leben, obwohl beide verheiratet, ihre Leidenschaft aus. Boryna will die entdeckten Liebenden in einer Scheune verbrennen, aber durch Zufall misslingt der Mord. Am Ende bringt auch Antek seinen verhassten Vater nicht um, obwohl er ihn während einer blutigen Auseinandersetzung zwischen Dorf und Gutshof unbemerkt hätte erschießen können. In dieser Stunde der Gefahr obsiegt der Gemeinsinn des Sohnes. Er erschießt den Förster des Gutsbesitzers, mit dem sein bereits schwer verletzter Vater kämpft, aber eben nicht diesen. Der alte Boryna erliegt nach Monaten des Dahinsiechens seinen Verletzungen und die Dorfgemeinschaft ächtet in einer gemeinsamen Aktion Jagusia. Sie wird auf einen mit Mist beladenen Karren gebunden und aus der Dorfgemeinschaft entfernt. An die Stelle der Ausgestoßenen tritt als Ideal die selbstlose, sich aufopfernde Frau von Antek, die den zerrütteten Hort der Familie bewahrt und den todkranken Schwiegervater Maciej Boryna pflegt. Die überzeitliche Darstellung des Dorflebens wird durch das Familiendrama zeitgenössisch eingefärbt. In einer geplanten, aber nicht ausgeführten Weiterführung des Romans wollte Reymont die Handlung in Amerika ausklingen lassen, wohin ein Teil der Dorfbevölkerung auswandert.
 
 Realistisch oder mythisch?
 
Reymont vernichtete 1901 einen ersten Entwurf des Romans, weil er »zu sehr an Zola« erinnerte. Der neue Roman sollte also einen Gegenentwurf zur dunklen materialistischen und deterministischen Welt des französischen Naturalismus liefern. Reymonts langsames Erzählen umkreist schier endlos die materielle Kultur des bäuerlichen Lebens. Gleichzeitig verdichtet sich aber die Beschreibung gerade im Bild der Natur und in der Zeichnung der Einzelschicksale zum Symbolischen. Der zeitgenössische Roman verwandelt sich zum alten Epos und die Darstellung berührt das um die Jahrhundertwende typisch Mythische. Wenn der vom Tod gezeichnete alte Boryna am Schluss noch einmal die Saat bestellt, wirkt das wie ein Mysterium des ewigen Wechsels von Tod und Leben, so wie die Leidenschaft und Körperlichkeit der jungen Jagusia zum mythischen Zeichen der Natur wird.
 
Der Roman erzählt die Geschichte eines Bauerndorfs, das fernab der neuen Zivilisation seine eigene Wirklichkeit lebt, auf drei verschiedene Weisen. Neben den traditionellen realistischen und beobachtenden Erzähler von außen tritt der mündliche, den Volkston aufnehmende Erzähler aus dem Dorf, und alle streben immer wieder der stilistischen Kunsterzählung der Jahrhundertwende zu. Diese Beweglichkeit der Erzählstimme ist mit ein Grund für die große und nachhaltige Wirkung des Werks: Die Bauernwelt erstarrt nie zum folkloristischen Freilichtmuseum und die Manieriertheit des Zeitstils wird stets in Grenzen gehalten. Der Roman zeigt einen Moment im endlosen Miteinander von Mensch und Natur auf dem Land und sucht weder nostalgisch eine neue Idylle, noch ein großes philosophisches Beispiel des menschlichen Daseins zu beschreiben. Man hat dem Roman gelegentlich sogar vorgeworfen, er hätte keine Philosophie.
 
 Der Aufsteiger
 
Nach der für das Polen des 19. Jahrhunderts typischen langen Reihe von Schriftstellern aus dem eher verarmten Landadel stellt Reymont als Aufsteiger aus dem Dorf eine neue Form des Schriftstellers dar. Sein Weg an die Spitze der Literatur führt ihn in seiner Jugend an alle erdenklichen Orte des gesellschaftlichen Lebens und immer wieder auch an dessen Rand. Reymont ist Schneiderlehrling, Fabrikarbeiter, Novize im Kloster, Bahnwärter, aber auch Mitglied wandernder Schauspieler- und Spiritistengruppen. In London macht er sogar Bekanntschaft mit Drogen. Literatur und Leben scheinen sich zu vermischen. Anders aber als viele seiner Zeitgenossen wird er aus diesen verschiedenen Erfahrungen nicht einen theatralischen Lebensentwurf konstruieren, sondern sie lediglich als Fundgrube für sein späteres Werk ausbeuten. Reymont entscheidet sich in den 1890er-Jahren für das Berufsliteratentum. Die Entwicklung zum anerkannten Erzähler beginnt mit der noch naturalistisch gefärbten Darstellung des Schauspieler- und Künstlermilieus, die den beliebten Bohème-Mythos der Zeit kritisch auflöst (»Die Komödiantin«; 1896) und setzt sich im großen Lodzer Stadtroman »Das gelobte Land« (1899) und den »Bauern« fort. Der Erfolg endet aber schließlich mit dem eher misslungenen historischen Roman »Das Jahr 1794«. Reymont ist sowohl ein Erzähler des gesellschaftlichen Außen als auch des psychischen Innen und der psychischen Grenzerfahrung.
 
G. Ritz

Universal-Lexikon. 2012.

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